Wie das Wahlsystem verändert werden sollte. Ein Vorschlag zur Diskussion

Aus der Mitte dieser Gruppe kommt folgender Vorschlag
einer ziemlich weitgehenden Umgestaltung des Wahlrechts. Er verbindet
Elemente von Losverfahren (statt Wahlen), direkter Demokratie und
repräsentativer Demokratie. Sein Sinn liegt nicht darin, zu versuchen,
ihn in der laufenden Legislaturperiode umzusetzen, sondern die
Diskussion über Änderungen und Weiterentwicklungen unserer Demokratie zu
befeuern. Er kann bei Interesse auch beim Demokratiekränzle in Vaihingen am 14.4.
diskutiert werden.

=> Download „Wie das Wahlsystem verändert werden sollte“

Sbyschek Mierzwa

Wo stehen wir…

Wo stehen wir, die wir meinen, dieses Land (wie alle andern) sollte deutlich demokratischer werden?

Die Lage der Demokratie

Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie ist in einer Krise – das sehen sehr viele so und dazu gibt es viel Literatur. Dass der politische Apparat weit vom Bürger entfernt ist, dass politische Entscheidungen intransparent und oft auf korrupten Wegen zustande kommen, dass Demokratie auf vielfältige Weise allüberall abgebaut wird – das sind weithin gefühlte und häufig belegbare Erfahrungen.

Wo die Macht wirklich sitzt, weiß man deshalb noch lange nicht. Also entstehen Vermutungen darüber. Die werden dann „Verschwörungstheorien“ genannt.

Manche dieser Vermutungen verdienen diese Bezeichnung, andere nicht; aber alle sollen durch diese Bezeichnung aus dem Bereich rationaler Diskussion verbannt werden.

Ziel dabei ist, eine Diskussion über die Mängel und erst recht über die Beseitigung der Mängel der Demokatie-wie-wir-sie-haben gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Das Spiel mit der Rechten

Das Erstarken der politischen, auch extremen, Rechten ermöglicht ein wunderbares Spiel: Alle „Demokraten“ sind gegen die AfD etc.; wer gegen die AfD ist, ist ein Demokrat. War da noch was mit Kritik an der Demokratie?

Dieses Spiel kann nicht gut enden: Die Mängel der Demokratie-wie-wir-sie-haben sind ein Teil der Rechtfertigung rechter Gegenkonzepte (das kennen wir ja auch aus der Geschichte). Demokratie-wie-wir-sie-haben ist Teil des Problems, nicht der Lösung.

Meine Vermutung: Diejenigen, die wirklich Macht ausüben, wissen das und finden es in Ordnung so. Jedenfalls ziehen sie diesen Zustand einer wirklichen Demokratisierung deutlich vor. Entweder alle Demokratie-Kritikerinnen lassen sich wieder eingemeinden (dann ist – für die Mächtigen – alles gut) oder nicht. Wenn das so viele sind, dass repressive Toleranz (also einfach ignorieren) nicht hilft, gilt: Faschismus ist im Zweifel das kleinere Übel. Auch das kennen wir aus der Geschichte.

Wir spielen nicht mit, sondern?

Die Gruppe mit der Aktionsform „Gläserne Urne“ und später die Autorinnen des Vaihinger Manifests meinten zu beobachten, dass viele Menschen aus Enttäuschung über die Politik, die wir erleben, nach neuen Ansätzen suchen, und zwar mit dem Ziel, das weit mehr Menschen sich an der politischen Willensbildung und den folgenden Entscheidungen beteiligen könnten und sollten. Das wäre eine Stärkung der Demokratie.

Die Aktionsform der demonstrativen Wahlverweigerung durch die „Gläserne Urne“ sollte die Diskussion über die dringend nötige Demokratisierung anstoßen; das Vaihinger Manifest sollte dazu inhaltliche Impulse geben.

Wirkung erreichten wir mit diesem Ansatz nicht.

Gründe dafür sehe ich v.a. in Folgendem (das ist keine Analyse, nur eine Vermutung):

1. Der Lärm um „alle Demokraten gegen die AfD“ hat Kritiker der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie wieder in den Rahmen eben dieser Demokratieform zurückgeholt. Und zu der gehört dann mindestens bei manchen plötzlich auch der Neoliberalismus als ökonomisches Prinzip.1

2. Die genannten Denk- und Diskussionsanstöße sind – dies war Absicht – eher dezent. So erreichten sie im Mediengetöse die Aufmerksamkeitsschwelle kaum.

Was folgt daraus?

Klare Vorschläge zur Demokratisierung sind nötig. Über politische „Forderungen“ diskutiert man eher als über eine Ansammlung von vorläufigen Vorschlägen. Das heißt (bei uns) auch: Wir sind offen für Einwände.

Das sieht dann freilich ein Stück weit aus wie ein Parteiprogramm.

Wie kommt man dazu?

Dieses „Programm“ kann als einen Ausgangspunkt das VM nehmen. Dieses sollte aber die Beschränkung auf Vorschläge über das Funktionieren der politischen Institutionen wie Parteien, Wahlen u.a. klarer aufgeben.

Voraussetzungen für eine gute Demokratie, die in der Wirtschaft (Ende des Wachstums und des Extraktivismus) oder in der Bildung (Ausrichtung auf politische Mitentscheidungen) liegen, sollten ausgearbeitet werden (hier kommen Gedanken von change economy ins Spiel).

Das Verfahren, welchen Demokratisierungsschritten Priorität eingeräumt werden soll, soll selbst demokratisch und transparent sein (hier hat Demokratie in Bewegung Erfahrungen).

Wo liegen die Schwierigkeiten?

Die Thematik wird breiter. Kritik ist einfacher als konstruktive Vorschläge. Dazu braucht es fundierte Kenntnisse. Das ist für kleine Gruppen schwierig. Es gibt Literatur. Baut man Forderungen auf ihr auf, ist immer ein Stück weit Vertrauen in ihre Seriosität dabei, immer das Wissen, dass wir wahrscheinlich nicht alle Kritik daran durchgearbeitet haben und dies auch nie können werden.

Das ist aber das Problem jeder mündigen Bürgerin: Wenn ich mein Vertrauen nicht blind einer Partei schenken möchte, muss ich mir über vieles ein Urteil zutrauen, worüber ich keine Fachkenntnisse habe. Ich brauche mehr Zeit, um mich bis zu einem gewissen Punkt auch mit komplexen Themen vertraut zu machen. Das geht vielleicht öfter, als man zunächst denkt.2

Und nun – was heißt das konkret?

Zu schrittweiser Demokratisierung sehe ich keine akzeptablen Alternativen. Immer sollten wir im Bewusstsein haben: Der nächsten Generation möchten wir sagen können: „Da könnt ihr weitermachen.“

Der Widerstand dagegen ist mächtig, die Strategien, die Macht dort zu lassen, wo sie ist, sind vielfältig. Immer gibt es die Skylla, dass man vom „System“ aufgesaugt wird, und die Charybdis, dass man einfach platt gemacht wird. Dazwischen der schmale Weg des Erfolgs.

„Allianzen schmieden“ scheint ein guter Ansatz. Allianzen zur Demokratisierung; lässt sich aus einigen Wahlprüfsteinen und einem verbreiterten Fundament à la Vaihinger Manifest eine Plattform machen, an der Züge abfahren können? Mit Einzelnen, Gruppen, Parteien, die – wo immer sonst ihre Schwerpunkte liegen – dort stehen können?

1Nur 1 Beispiel zur Illustration: Peter Unfried gehört nicht zu den Dummen. In seiner Kolumne „Die Mitte ist linksgrün versifft“ vom 31.3.18 in der taz gerät ihm sein Werben für den Abschied von der Einteilung in „gut/richtig“ und „böse/schlecht“ in der Politik zu einem Lob Macrons (zeitgleich zu dessen neoliberalen Angriffen auf die SNCF!): „Das heißt nicht, dass man radikal sein darf. Man muss. Aber richtig. Eine radikale Europa-Position ist eben keine des „Ja, aber …“. „Radikal“ heißt hier: klares Ja, ohne Aber. Mit dieser Alternative zu allen anderen Parteien hat Macron aus einem ausgelaugten Parteiensystem eine neue Mehrheit herausgebrochen.“ (ganzer Text hier: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5492826&s=Unfried&SuchRahmen=Print/)

2Zwei Beispiele zur Illustration: Nehmen wir die Atomwaffen in Büchel. Um ihren Abzug, besser: ihre Vernichtung zu fordern, muss man kein Waffenexperte sein, man muss noch nicht einmal genau über die zugehörigen Trägersysteme oder gar über die „Vorteile“ ihrer Modernisierung Bescheid wissen (wenn man´s doch tut, umso besser). Nehmen wir als Gegenbeispiel ein „Entwicklungshilfe“-Projekt: In einem afrikanischen Land soll der Hunger gelindert und den Bauern geholfen werden, indem man neben anderen Maßnahmen zahlreiche Brunnen bohrt. Klingt prima vista gut, ist aber sehr problematisch: Man muss die Wechselwirkung zwischen den Maßnahmen und den sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen bedenken. Hier sind also vertiefte Detailkenntnisse nötig.

Konrad Nestle

Gläserne Urne in Stuttgart

Allen Menschen, die das Politik-Spielchen nicht mehr mitspielen wollen, denen aber das Nichtwählen zu wenig ist, möchten wir eine Möglichkeit geben, ihr „Nein“ zu einem Weiter-so-wie-gehabt zu artikulieren.

Am Wahlsonntag (24.9.) steht die Gläserne Urne von 10 bis 18 Uhr auf dem Marktplatz in Stuttgart vor dem Rathaus. Wahlbenachrichtigungen (Namen und Adresse dabei bitte schwärzen oder wegschneiden) können als Form des öffentlichen Protest hier eingeworfen werden.

Wahlbenachrichtigungen können alternativ auch an das Postfach geschickt werden: Initiative „Mitmachen ohne Mitzuspielen“, Postfach 100663 in 70005 Stuttgart.

Das Prinzip:

  • Die „Gläserne Urne“ ist ein qualifizierter Wahlboykott.
  • Anstatt wählen zu gehen, geben wir alle Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, die Wahlbenachrichtigung am Wahltag in die „Gläserne Urne“ zu werfen, bzw. sie an das Postfach der „Gläsernen Urne“ zu senden. Wer seinen Namen nicht preisgeben will, kann das Adressfeld ausschneiden, so dass die Zusendung anonymisiert ist. Uns geht es um das politische Statement, nicht um persönliche Daten!
  • Wer möchte, kann uns eine Begründung mitschicken, warum dieser Weg des Wahlboykotts gewählt wurde. Die Begründungen werden (wenn gewünscht) auf unserem Blog veröffentlicht – auch anonym (oder unter einem Pseudonym).
  • Jeder kann in seiner Stadt eine „Gläserne Urne“ aufstellen – wir unterstützen gern dabei.

Rückblick auf die Veranstaltung am 14.9.

Vor wenigen Tagen haben wir im Forum 3 in Stuttgart mit etwa 40 anderen Interessierten den Rücklauf unserer Wahlprüfsteine diskutiert. Mit dabei waren auch Vertreter der folgenden Parteien (in alphabetischer Reihenfolge): Bündnis Grundeinkommen (BGE), Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), Partei Mensch Umwelt Tierschutz (Tierschutzpartei), Piratenpartei, Transhumane Partei und Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS).

Die Atmosphäre war konzentriert und das Konzept von kurzen Redebeiträgen ohne Podium und Frage-Antwort-Spiel gelang dank großer Selbstdisziplin aller Beteiligten sehr gut. Die Veranstaltung wurde auch aufgenommen. Den Videomitschnitt kann man sich hier ansehen.

Weitere Dokumente und die tabellarische Übersicht gibt es hier.

Als Fazit der Veranstaltung können wir folgende Aspekte festhalten:

Wahlprüfstein 1: Parteienfinanzierung
Konsens besteht darüber, dass Spenden von Unternehmen und Verbänden das Prinzip der Chancengleichheit bei Wahlen verfälschen. Das gilt auch für sehr hohe Spenden natürlicher Personen. Natürlich sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt bei der Umgehung von Spendenregeln. Einen wichtigen Bereich haben wir in den Wahlprüfsteinen und im Vaihinger Manifest übergangen: Die indirekte, meist personelle und organisatorische Unterstützung von Parteien durch Stiftungen, Vereine oder scheinbare Initiativen der Zivilgesellschaft, die aufgrund ihrer Rechtsform zu keinerlei Transparenz verpflichtet sind. Das gilt für bekannte Einrichtungen wie Konrad-Adenauer- und Heinrich-Böll-Stiftung genauso wie für ganz unbekannte Gruppen.

Wahlprüfstein 2: 5-Prozent-Hürde
Insgesamt stehen die anwesenden Parteien der 5%-Hürde kritisch gegenüber, da diese Hürde große Parteien bevorzugt und gerade kleine Parteien benachteiligt. Natürlich ist allen klar, dass eine Koalitionsbildung mit einem Parlament mit deutlich mehr (auch kleinen) Parteien schwieriger würde. Das sollte aber letztlich kein Grund für die Beibehaltung sein. Als Alternative wurde auch der Vorschlag einer Ersatzstimme eingebracht, die gezählt werden solle, falls die erste Stimme unter die Sperrklausel fiele.

Wahlprüfstein 3: Berufspolitiker
Dieser Wahlprüfstein ist derjenige, der am umstrittensten ist. Selbst eine kleine Gruppe wie wir macht die Erfahrung, dass nicht alle alles machen können – und wollen. Ein gewisses Maß an Professionalisierung und Arbeitsteilung ist unumgänglich, es geht eher um das rechte Maß. Es gibt Beispiele von wiederholten Kandidaturen und Mandatsübernahmen wie Hans-Christian Ströbele oder – früher in – Eugen Eberle, der auch nach dem KPD-Verbot lange Stadtrat in Stuttgart gewesen ist. Eine einfache Begrenzung der Mandatsdauer würde insgesamt das Problem auch nicht lösen, denn das Argument vom nötigen Gleichgewicht zwischen Legislative und Exekutive ist durchaus stichhaltig. Letztlich müsste man bei einer Begrenzung der Mandatsdauer auch eine Begrenzung der Dauer der Regierungsämter fordern.

Wahlprüfstein 4: Direkte Demokratie
Obwohl nahezu alle Parteien eine Stärkung direktdemokratischer Einflussmöglichkeiten auf Bundesebene fordern, scheint gerade die konkrete Ausgestaltung solcher Regelungen schwierig zu sein. Über was sollte wer in welchem Umfang abstimmen können?

Allen Teilnehmern und Parteien, die uns eine Rückmeldung zu den Wahlprüfsteinen gegeben haben und vor allem auch so kurz vor der Wahl zu der Diskussionsveranstaltung gekommen sind, sei auf diesem Weg nochmals herzlich gedankt.

Und jetzt?

Welche Konsequenzen Besucher der Veranstaltung und Leserinnen dieser Infomails aus all dem für die Bundestagswahl am 24.9.2017 ziehen, müssen und wollen wir diesen selbst überlassen. Wir sagen nicht „Partei XY ist unserer Einschätzung nach diejenige, die für Demokratisierung am offensten ist.“ Wer mit dem Angebot auf dem Wahlzettel unzufrieden ist, hat die schon im vorigen Infobrief genannten Möglichkeiten:

1. Man wählt eine der Parteien (mit Chance auf mindestens 5%), die positiv auf die Wahlprüfsteine reagiert haben. Das ist vielleicht ein „kleineres Übel“, aber doch auch ein kleines Stück Richtiges.

2. Man wählt die Partei, die das deutlichste Demokratisierungsprogramm hat und keine Programmpunkte, die für einen inakzeptabel sind. Eine Protestwahl also.

3. Man wählt ungültig; diese Stimmen zählen bei der Wahlbeteiligung mit, wirken sich aber nicht auf die Sitzverteilung aus.

4. Man verweigert sich dem Wählen überhaupt, weil man Wahlen unter den herrschenden Umständen für bloße Simulation hält o.ä.

Wir laden alle, die Demokratisierungsinitiativen wie die unsrigen unterstützen und sich daher für eine dieser Möglichkeiten entscheiden, dazu ein, uns mitzuteilen, für welche sie sich entschieden haben.

Gläserne Urne in Stuttgart

Für die, die sich für Möglichkeit 4 (Verweigerung des Wählens) entscheiden, gibt es in Stuttgart wieder eine „Gläserne Urne“ (am Wahlsonntag von 10 bis 18 Uhr auf dem Marktplatz), in die die Wahlbenachrichtigen (Namen und Adresse dabei bitte schwärzen oder wegschneiden) eingeworfen werden kann. Man kann dazu auch ein Postfach benutzen: Initiative „Mitmachen ohne Mitzuspielen“, Postfach 100663 in 70005 Stuttgart.

Unsere Wahlprüfsteine zur BTW 2017

Anfang Juni haben wir nahezu alle Parteien, die zur Bundestagswahl 2017 antreten, angeschrieben und sie gebeten, uns zu unseren Wahlprüfsteinen Rückmeldung zu geben.

Sie sollten zu den Wahlprüfsteinen jeweils die Frage beantworten, ob sie ein entsprechendes Gesetz einbringen bzw. unterstützen oder ablehnen würden (oder ob die Partei zu dem Thema noch nicht sprachfähig ist).

19 Parteien haben geantwortet, teilweise mit sehr ausführlichen Statements zu den einzelnen Wahlprüfsteinen. Von den Parteien, die eine realistische Chance haben, in den Bundestag einzuziehen, erhielten wir eine Antwort von CDU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke. Nicht geantwortet haben AfD und CSU.

Zur Vorbereitung der Veranstaltung können sich Interessierte die Zusammenfassung der Rückläufe hier ansehen: Download: Rückmeldungen der Parteien zu den Wahlprüfsteinen

Am 14. September 2017 um 19 Uhr im Forum3 in Stuttgart werden wir die Antworten der Parteien vorstellen und mit Interessierten diskutieren. Vor der Veranstaltung werden wir die Ergebnisse gemeinsam mit einer kurzen Zusammenfassung an dieser Stelle veröffentlichen. Einige Parteienvertreter haben bereits ihre Teilnahme an der Veranstaltung angekündigt.

Das sind unsere Wahlprüfsteine:

1. Parteienfinanzierung

Der Einsatz von großen Macht- und Geldmitteln kann die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit und in den Parteien verfälschen. Viel Geld sorgt nicht für eine rationale Debatte.

Daraus folgt unseres Erachtens, dass Parteien keine Spenden von juristischen Personen annehmen dürfen sollten und Spenden von natürlichen Personen begrenzt werden sollten.

Die staatliche Unterstützung der Parteien bevorzugt große Parteien. Kleinen Parteien und unabhängigen Kandidaten (unter 1% Stimmenanteil) wird diese Unterstützung generell verweigert. Ohne staatliche Unterstützung würden Parteien abhängiger von den Beiträgen und vor allem vom Engagement ihrer Mitglieder. Also sollte die Staatsfinanzierung der Parteien mindestens stark reduziert werden.

2. Fünf-Prozent-Hürde

Kleine Parteien können mehr Impulse zur Erneuerung geben als „große Tanker“. Sie werden jedoch in den Wahlgesetzen der europäischen Länder auf vielfältige Weise benachteiligt. Deutschland kennt zwar weder ein ungebändigtes Mehrheitswahlrecht noch „Boni“ für die je stärkste Partei, doch sorgt auch die 5%-Hürde dafür, dass Wähler Innen nicht die Partei mit ihrem bevorzugten Programm wählen, sondern als „kleineres Übel“ eine Partei, die Aussicht hat, im Parlament vertreten zu sein. Auch darin liegt eine Verfälschung des Wahlergebnisses.

Ein Sitz im Bundestag entspricht etwas weniger als 100 000 Stimmen. So viele Menschen sollten ein Recht auf Repräsentation haben. Angebliche Schwierigkeiten „stabile Regierungen“ zu bilden, sind zu vernachlässigen. Der Begriff „Koalition“ kommt im Grundgesetz auch nicht vor. Also sollte die 5%-Hürde entfallen.

3. Abgeordnete als Berufspolitiker

Art. 21 (1) des Grundgesetzes überträgt den Parteien die Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willensbildung und schreibt ihnen intern demokratische Grundsätze vor. Beides ist reichlich ungenau. Unserer Vorstellung von demokratischer Willensbildung entsprechen Regelungen, die die Verantwortlichkeit der Abgeordneten gegenüber ihrer (Partei-)Basis und ihren Wählern stärken und der Bildung einer „Kaste“ von Berufspolitikern entgegenwirken. Dazu muss die Unabhängigkeit der Abgeordneten gestärkt werden. Entscheidungen sollen sie immer nach ihrem Gewissen treffen können und nicht nach Maßgabe der Fraktionsdisziplin.

Um dies zu erreichen, sollte die Mandatsdauer von Parlamentsabgeordneten auf ein bis zwei Legislaturperioden begrenzt werden. Die Wiederaufnahme des Berufs wird mit Arbeitsplatzgarantie und/oder einem Übergangsgeld von zum Beispiel vier Jahren erleichtert.

Um die Entscheidungen der Abgeordneten stärker an ihre Partei zu binden, sollte die Parteibasis die Möglichkeit haben, Abgeordneten ihrer Partei ein Mandat auch zwischen Wahlen zu entziehen.

4. „Volksabstimmung“ / Direkte Demokratie

Art. 20 (2) des Grundgesetzes sieht neben Wahlen Abstimmungen des „Volkes“ zu Sachentscheidungen vor. In den seither verstrichenen 60 Jahren ist dazu noch kein Gesetz beschlossen worden. Dies ist nachzuholen. Die Einzelbestimmungen des Gesetzes sollen einen Kernbereich sachlicher Debatte möglichst weitgehend gewährleisten.

Fault die Parteiendemokratie, gärt’s im Wähler

Voraussichtlich am 15. Oktober 2017 wird in Niedersachsen der neue Landtag gewählt, rund drei Monate früher als ursprünglich geplant. Nötig wird die vorgezogene Neuwahl, weil die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten am 4. August ihren Austritt aus der Fraktion und der Partei Bündnis 90/ Die Grünen verkündete. Damit hat Rot-Grün im niedersächsischen Landtag die hauchdünne Mehrheit von nur einer Stimme verloren.

Im Gegensatz zum Diskurs in Presse und den Sozialen Medien soll hier nicht debatiert werden, ob die CDU Twesten ein „unmoralisches Angebot“ gemacht hat oder nicht, denn der gesunde Menschenverstand und die Erfahrung mit der politischen Klasse lassen gar keine andere Möglichkeit denkbar erscheinen. Auch soll nicht die Rede sein von der inhaltlichen Nähe grüner und schwarzer Politik. Denn die zeigt sich in ihrer ganzen Ödnis bereits zur Genüge – gerade hier im Ländle.

Die Gretchenfrage in diesem Fall ist eine andere. Es ist die Frage nach dem freien Mandat. Mit Goethe darf vermutet werden: Die moderne Berufspolitikerin von heute, sie hält nicht viel davon. Steigen wir also hinab in die Abgründe der „Demokratie, wie wir sie haben“, gehen wir dorthin, wo’s fault und stinkt, wagen wir uns in den Sumpf der Parteiendemokratie.

Artikel 12 der Niedersächsischen Verfassung besagt: „Die Mitglieder des Landtages vertreten das ganze Volk. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Wo also ist das Problem, wenn Twesten nun ihr Landtagsmandat als Parteilose weiterführt und es nicht etwa niederlegt, wie SPD und Grünen fordern? Die Gesetzeslage ist doch eindeutig, ja unterstützt sogar eine Politikerin, die mit ihrem Gewissen die Politik von Rot-Grün nicht mehr vereinbaren kann.

Natürlich lautet genau so auch die Verteidigungslinie von Twesten. Auf die Frage, warum sie ihr Mandat nicht zurückgibt, schließlich sei sie über die Liste der Grünen-Partei in den Landtag gelangt, antwortete sie: „Als freie Abgeordnete. Wir haben ein freies Mandat und ich bin von den Menschen in meiner Region gewählt worden, für die ich mich weiterhin einsetzen will. Und das kann ich jetzt auch in der CDU.“(Quelle: HAZ)

Indessen zeigt schon die Frage der HAZ, dass sich die vierte Staatsgewalt längst damit abgefunden hat, dass die Unabhängigkeit des Abgeordneten nur noch de jure gilt. De facto regieren Fraktionszwang und die informellen Abhängigkeiten, denen sich jeder Berufspolitiker, jede Berufspolitikerin, aus persönlichem Ehrgeiz und aus Habgier höchst freiwillig unterwirft. Das aber ist in der Berichterstattung kein Thema. Mehr noch: Die Medien befleißigen sich darin, das undemokratische Spiel noch zu befeuern. Dass sich die Kreistags-Delegierten Ende Mai in freier Wahl nicht für Elke Twesten als Landtags-Kandidatin entschieden, sondern für ihre Konkurrentin Birgit Brennecke, kommentiert Ludwig Greven in der ZEIT. Er ist der Ansicht, die Parteiführung hätte den Delegierten klarmachen sollen, „was von ihrer Entscheidung noch alles abhing. Dann hätten die sich womöglich anders entschieden“. Es ist entlarvend, dass hier der Diktatur der Parteielite, die in der Tat wohl am liebsten so vorgegangen wäre, auch noch das Wort geredet wird!

Jakob Augstein wiederum wirft Twesten Verrat vor und wünscht sie gleich in Dantes untersten Höllenkreis. Doch bezichtigt er sie nicht etwa des Verrats an der Demokratie oder am Wähler, sondern an der Partei. Aus gekränkter Eitelkeit Rot-Grün im Stich lassen, also das geht für nun wirklich nicht.

Dabei ist das der eigentliche Skandal der „Regierungskrise in Niedersachen“: Die Gleichgültigkeit, mit der darüber hinweggesehen wird, dass in den Parlamenten der Geist des Grundgesetzes und der Landesverfassungen täglich mit Füßen getreten wird. Als eine der Säulen der Demokratie gepriesen ist die Freiheit des Mandats nurmehr noch Blendsäule. Und der Wähler? Er weiß, dass es so ist und empört sich nicht. Nein, er passt sein Wahlverhalten an. Das war bei der Landtagswahl am 19. 2. 2013 in Niedersachsen so, das wird am 24. 09. 2017 bei der Bundestagswahl so sein. Psychologisch und kognitiv mag das eine valide Strategie sein, ethisch ist es eine gesellschaftliche Bankrotterklärung. Die Frage ist mehr als berechtigt, ob diese Adaption nicht auch den Grundsatz der freien Wahl, der in §38 des Grundgesetzes geregelt ist, aushebelt. Damit stünde der Vertretungsanspruch der Abgeordneten zur Disposition, die Legalität der in den in den Parlamenten getroffenen Regelungen und Gesetze infrage.

Erstaunlich, welchen Wandel die konstitutionelle Verfasstheit unseres Staatsgebietes in den letzten einhunderfünfzig Jahren hingelegt hat. Es soll mal eine Zeit gegeben haben, in der man gewagt hat, laut über eine Rätedemokratie nachzudenken, über imperative Mandate und Begrenzung der Amtszeiten von Abgeordneten. Ob Kaiser Wilhelm II. über unsere heutige Demokratie wohl sagen würde: „Ich erkenne keine Individuen mehr, ich erkenne nur noch Parteimitglieder“?

Nein, der Abschaffung von politischen Parteien an sich sei hier nicht das Wort geredet. Ich gebe nur zu bedenken, dass das, was sich in den Parlamenten abspielt, dem Geiste des Grundgesetzes und der Landesverfassungen nicht entspricht. Ich fordere auf, sich mit Alternativen zur Parteiendemokratie zu beschäftigen und mit den Möglichkeiten, wie die Auswüchse dieses System beschnitten werden können (z.B. durch Neuregelung von Parteispenden, Abgeordnetendiäten, Nebeneinkünfte, Lobbyregister etc.). Ich fordere die Bürgerinnen und Bürger auf, selbst zu kandidieren für die Landtags- und Bundestagswahlen – als parteilose Abgeordnete. Alle, die dieses Demokratie-Spielchen satt haben, sollten dies tun, alle, massenhaft. Souverän, hol dir deine Souveränität zurück!

Sollte man dennoch erwägen, bei der anstehenden Bundestags- bzw. Landtagswahl eine Partei zu wählen, so ist zu prüfen, wie sie’s mit der Demokratie hat. Dies allein sollte das entscheidende Kriterium fürs Kreuzchen sein. Unsere Wahlprüfsteine geben eine erste Orientierung. Überzeugen die Parteien und das System der Parteiendemokratie nicht, so ist es besser, anstatt der Wahl fernzubleiben, die Kritik daran öffentlich zu machen. Dies kann durch einen aktiven Wahlboykott geschehen, wie wir ihn zur Bundestagswahl erneut anbieten.

Zu guter Letzt: Wie ernst es Elke Twesten mit der Vertretung ihrer Region und der Unabhängigkeit des Amtes wirklich ist, zeigt die Vorgeschichte ihres Parteiaustritts. Die Frau wusste, was sie tat, wann sie es tat und warum.

Denn erst nachdem Ende Mai klar wurde, dass sie als Landtagskandidatin für ihren Wahlkreis nicht wieder nominiert würde, ging sie in die Offensive und brachte die Absprache mit der CDU unter Dach und Fach. Obwohl sie möglicherweise auch über die Landesliste der Grünen in den Landtag hätte einziehen können. Und obwohl sie schon länger mit dem Gedanken eines Wechsels spielte. Die Landesliste der CDU indessen war schon beschlossen, über diesen Weg gab es keine Möglichkeit, sich im Landtag für ihre Region „einzusetzen“. Ob ihr angesichts der miserablen Umfragewerte letztlich der Listenplatz der Grünen zu unsicher war oder gekränkte Eitelkeit sie diesen Entschluss fassen ließ – sicher ist: Als Abgeordnete des EU-Parlaments oder des Bundestages wird bei ihren Entscheidungen die Region eine vernachlässigbare Rolle spielen. Der real existierende Fraktionszwang, der die Hinterbänkler zu Stimmvieh degradiert, wird es schon zu verhindern wissen.

Es ist also wieder einmal der Logik der Parteiendemokratie und ihres Belohnungssystems zu verdanken, dass bis in den Oktober hinein ein Landesparlament als lahme Ente durch die politische Landschaft watschelt, handlungsunfähig. Die einzige Aktivität, die dort zu beobachten sein wird: Das unwürdige Schauspiel vom Hauen und Stechen um Machtoptionen.

Ein Kommentar von Yvonne

WAHLKAMPF 2017 – WIE IMMER?

„Trump – der ist ein Geschenk des Himmels“ (Thomas Oppermann)

Natürlich ist das Zitat frei erfunden. Ob es schlecht erfunden ist, wird sich zeigen.

Wir haben eine neue Lage – welche eigentlich?

Trump und sein Kabinett sind nicht weniger neoliberal als es Clinton gewesen wäre, mindestens im Verein mit der republikanischen Partei. Er denkt auch nicht weniger geostrategisch, hat nur vielleicht eine etwas andere geostrategische Agenda. Er ist auch – im Gegensatz zu seinem Wahlkampfgetöse – nicht weniger Wall-Street-freundlich, sondern holt sich deren Vertreter gleich direkt ins Kabinett. Nationale Interessen („America first“) sind auch für andere das Wichtigste, man denke nur an Schäubles Politik gegen Griechenland: Sie dient vor allem der deutschen Exportindustrie und den Banken, die die Finanzierung dazu machen. Und der besondere Aufreger: Die Mauer an der mexikanischen Grenze – ist sie humaner als die „Mauer“ im Mittelmeer?

Woher kommt dann die anscheinend echte Wut der anderen, bis hin zu Schäuble?

Ich riskiere eine steile These: WAHLKAMPF 2017 – WIE IMMER? weiterlesen

Die LINKE wählen?

„Die Linke vertritt doch richtige und wichtige Positionen, du musst sie wählen, damit diese in den Parlamenten gestärkt werden!“ Nette Menschen und gute Freunde sagen das immer wieder zu mir und die Antworten fallen mir nicht leicht. Besonders die klar ablehnende Haltung zu Bundeswehreinsätzen im Ausland, Rüstungsexporten und Militarisierung der EU waren immer ein starkes Argument. Wenn ich Linke wählen würde, dann deshalb. Die LINKE wählen? weiterlesen

„Wenn ich schon keine Wahl habe, tue ich nicht mehr so, als hätte ich eine.“

wahlsonntag2

Am Wahlsonntag hatten wir von 11-18 Uhr auf dem Schlossplatz in Stuttgart unseren Infostand mit der Gläsernen Urne aufgebaut. Die Stimmung war teilweise sehr aggressiv, wie wir das noch nicht erlebt hatten: Ohne dass wir Gelegenheit hatten, unsere Aktion und unsere Beweggründe zu erklären, wurden wir beleidigt und beschimpft, manch einer war der Ansicht, allein die Tatsache, dass wir mit „der Aktion“ auf dem Schlossplatz stehen dürften, zeigte doch, dass mit „Wenn ich schon keine Wahl habe, tue ich nicht mehr so, als hätte ich eine.“ weiterlesen