2012 Vorbereitung auf Bürgerbegehren

D I S K U S S I O N S P A P I E R

der Initiative mitmachen ohne mitzuspielen

Stuttgart, im November 2012

Mehr Bürgerbeteiligung, mehr direkte Demokratie, „ein bisschen Schweiz“ (T. Brunke), bei der Rathausbesetzung sogar ein „Bürgerparlament“ – das waren und sind Forderungen der Bewegung für den Kopfbahnhof und anderer Gruppen der sogenannten Zivilgesellschaft.

Und was macht die Gegenseite? Sie nimmt unsere Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung auf, besetzt den Begriff rasch selbst, interpretiert, was er aus ihrer Sicht heißen soll, und zersetzt ihn durch ihre Praxis der Umarmung bis zum Ersticken. Sie nutzt ihre Form der Bürgerbeteiligung bewusst zu ihrem eigenen Vorteil und zu unserem Schaden. Der „Filderdialog“ war exemplarisch, freilich – ein Anfängerfehler der Regierung – so grob gestrickt, dass es fast alle merkten.

Das ist reine Propaganda, heißt bloß anders. Unsere Aufgabe ist: Wir müssen sie als solche erkennen und angemessen darauf reagieren.

Kaum gewählt und noch gar nicht im Amt hat Fritz Kuhn einen Bürgerentscheid angekündigt für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass der Kostendeckel des Projekts Stuttgart21 offiziell gesprengt wird und die Stadt sich an den Mehrkosten beteiligen will. Genau das sieht schon ein Gemeinderatsbeschluss vom 29.7.2009 vor.

Wir, die Initiative mitmachen ohne mitzuspielen, möchten deshalb bereits jetzt diskutieren, ob dieser Bürgerentscheid in der gegenwärtigen Situation eine angemessene und demokratisch zu nennende Beteiligung für eine über die letzten Jahre nun doch ein Stück weit aufgeklärte Bürgerschaft bietet.

Die Diskussion zum jetzigen Zeitpunkt ist deshalb wichtig, weil wir jetzt die Themen setzen und vielleicht auch die Bedingungen des Bürgerentscheids beeinflussen können. Wenn ein Bürgerentscheid einmal festgesetzt ist, wird kaum noch Zeit für eine Grundsatzdiskussion bleiben.

Vielen von uns steckt die Erfahrung der Volksabstimmung noch in den Knochen. Viele haben neu überlegt und meinen nun, die Frage der Teilnahme an der „VA“ und dem „Wahlkampf“ dafür sei nicht rechtzeitig und gründlich genug diskutiert und vielleicht falsch entschieden worden. Alle Gegenargumente nach der „VA“, wie zum Beispiel, dass wichtige und zugesagte Voraussetzungen der Volksabstimmung nicht eingehalten wurden (Kostentransparenz, Beweis der Leistungsfähigkeit etc.) oder die Volksabstimmung selbst verfassungswidrig gewesen sei, weil die Landesregierung zum Vertragsbruch gezwungen würde, verhallten ungehört.

Herrschende Meinung wurde, dass die „VA“ ein Votum für Stuttgart21 sei. Sie rechtfertigte nicht nur Regierungshandeln auf allen Ebenen, sondern forderte anscheinend auch die unbedingte Realisierung von Stuttgart21 gegen eigene persönliche Überzeugungen. Dass das falsch ist, ist der Propaganda egal. Das so dargestellte Ergebnis der „VA“ entwickelte schon fast religiöse Kräfte – vor allem bei Winfried Kretschmann. Propagandistisch haben wir verloren. Jeder, der nach der Abstimmung noch gegen S21 war, wurde als undemokratischer Wutbürger beschimpft.

Wir müssen diesmal vorher fragen: Welche Kriterien müsste ein Bürgerentscheid erfüllen, damit er nicht wieder zu einem reinen Propaganda-Instrument der Befürworter verkommt. Welche Kriterien müsste ein Bürgerentscheid erfüllen, damit wir ihn als demokratisches Mittel der Entscheidungsfindung gelten lassen können?

Konsens dürfte sein: Der Bürgerin und dem Bürger muss klar sein, worüber sie oder er entscheidet und was der Unterschied ist zwischen „ja“ und „nein“, d.h. welchen Inhalt, welche zeitliche und finanzielle Reichweite usw. die Entscheidung hat. Daraus ergeben sich viele Fragen, einige davon lauten:

  • Welche Folgen hat der Bürgerentscheid für die Weiterführung oder den Abbruch des Projekts? Würde es bei Ablehnung von Mehrkosten für die Stadt zwingend oder auch nur wahrscheinlich zur Einstellung von S 21 kommen? Ändert der Bürgerentscheid zwingend überhaupt irgendetwas an dem Projekt selbst?
  • Welche Rechtslage entsteht durch den Bürgerentscheid bei den von der Stadt unterzeichneten Verträgen? (Das ist heute anders als 2009, als die Finanzierungsverträge noch nicht unterzeichnet waren!)
  • Wird über einen nach oben offenen Beitrag zur Finanzierung abgestimmt oder über einen genau bestimmten Betrag? Öffnen wir durch den Bürgerentscheid die Schleusen oder werden die möglichen Mehrkosten erneut begrenzt?
  • Welche tatsächlichen Eigenschaften hat die Ware, die man kauft, und entsprechen sie dem vertraglich Vereinbarten (Leistung des Bahnhofs, Sicherheit etc.)?
  • Ist die Mischfinanzierung des Projekts Stuttgart 21 überhaupt verfassungskonform? (Ein Bürgerentscheid über ein verfassungswidriges Projekt wäre gegebenenfalls selbst verfassungswidrig.)
  • Kennen wir das Preis-Leistungsverhältnis bzw. die Wirtschaftlichkeit des Projekts S21/NBS beim gegenwärtigen Stand der Planung und Kosten?

Je nachdem, wie wir diese Fragen beantworten, gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich zu dem zu erwartenden Bürgerentscheid zu verhalten.

Und es werden dadurch neue Fragen aufgeworfen:

  • Ist es sinnvoll, sich in den „Wahlkampf“ zu stürzen wie bei der „VA“?
  • Würde die propagandistische Legitimierungswirkung des Bürgerentscheids verpuffen, wenn der gesamte Widerstand zum Boykott aufriefe?
  • Können wir unser Bewusstsein und unsere Öffentlichkeitsarbeit (= Propaganda?) spalten, indem wir den Bürgerentscheid ablehnen und doch zur Abstimmung auffordern?

Zur Amtseinführung von Fritz Kuhn am 7. Januar 2013 könnte die Diskussion voll im Gange sein. Wir, die Bürger, und besonders die, die an diesem Projekt viel gelernt haben, könnten die Themen setzen!

Für Anregungen, Kontakt, Diskussion: post@mitmachen-ohne-mitzuspielen.de

(Diskussionspapier als PDF-Download)

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