„Demokratiefans … machen mobil“

… so titelt die Stuttgarter Zeitung vom 23.5.2017. Das ist vielleicht treffender formuliert als die feinsinnigen Stilisten des Blattes selbst merken.

Die Beobachtung kann man in der Tat machen: Überall mobilisieren Initiativen zu Veranstaltungen, Kundgebungen u.ä. um ein Zeichen zu setzen für Europa, für die Demokratie, für die Offene Gesellschaft, für das Grundgesetz, für´s Wählen überhaupt. Die StZ nennt für diesen 23. Mai zwei Initiativen in Stuttgart, „bock-auf-wahl.org“ (lt. StZ initiiert von Walter Sittler, Michael Kienzle u.a.) und den Stuttgarter Ableger der Gruppe Offene Gesellschaft  (gegründet von Harald Welzer u.a.). Es gab auch noch die Kundgebung „Farbe bekennen“, zu der kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen (Leitung: Diözese Rottenburg-Stuttgart) aufgerufen hatten. Geworben wird von allen für Engagement für „Demokratie“; dieses wunderbare Für-etwas-Sein richtet sich, mal ausdrücklich, mal bloß gemeint, gegen den „Rechtspopulismus.“

An zwei sehr unterschiedlichen Veranstaltungen habe ich teilgenommen. Ich wollte wissen, ob es ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsame Methode gibt.

Die eine war ein Vortrag im Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof (Stuttgart) in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Stuttgarter Seminar für Didaktik und Lehrerbildung.

Wer sich vom Vortragstitel des Prof. Oscar W. Gabriel „Die Bundestagswahl 2017 – das Parteiensystem im Wandel. Wohin entwickelt sich die parlamentarische Demokratie?“ eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Kritik  an unserem parlamentarisch-repräsentativen System erwartete, sah sich getäuscht.  Es ging Gabriel ausschließlich um das Auf und Ab der „Volksparteien“ (d.h. Parteien mit mindestens ca. 30%-iger Anhängerschaft in der Bevölkerung). Grund für die Kritik an den großen Parteien in jüngster Vergangenheit sei die „Flüchtlingskrise.“ Neben diesem xenophob motivierten Kritikpunkt kamen andere Aspekte (Lobbyismus usw.) so gut wie nicht vor. Andererseits sprach Gabriel selbst davon, dass in anderen europäischen Ländern das Parteiensystem der 2. Hälfte des 20. Jdt. noch vor allen Flüchtlings-„Krisen“ viel gründlicher in die Krise geraten sei (v.a. in Italien).

Demokratie sei vorhanden, so Gabriel, wenn alle die gleichen Rechte hätten und sich an das gleiche Recht halten müssten, wenn alle gleiches Recht auf Einfluss auf die Politik hätten, wenn Parteien intern „hinlänglich“ demokratisch strukturiert seien. Gabriel zeigte sich überzeugt, dass diese Bedingungen fraglos erfüllt und  die Einflussmöglichkeiten der Bürger so groß wie nie seien und dass es Politikverdrossenheit gar nicht gebe, ebenso wenig wie obrigkeitsstaatliche Strukturen. Gabriel bekannte, er sei ein Fan der großen Volksparteien, auch wenn er einräumte, dass sie sich in ihrer Programmatik zunehmend ähnlich geworden sind. Auf Kritik antwortete er durchaus, doch fast ohne inhaltlich auf sie einzugehen.

Die den großen Saal gut füllenden Schulklassen und -gruppen, die sich z.T. sichtlich gut vorbereitet hatten, wurden im Grunde mit der Botschaft entlassen:  Demokratie, wie wir sie haben, ist im Prinzip vollkommen. Wenn wir uns nur darauf besinnen, kommen auch momentane Verunsicherungen (wie die durch die – nie genannte – AfD) wieder ins Lot.

Schulklassen waren auch bei der zweiten Veranstaltung, zu der ich ging, eingeladen, einer „öffentlichen Mittagspause“ zum 68. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes, ab 11.55 auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Organisiert hatte das (federführend für viele Organisationen) die Diözese Stuttgart-Rottenburg. Eine Schulklasse war dort freilich nicht zu sehen, obwohl es wohl schulfrei gegeben hätte. „Vorträge“ und „Diskussionen“ (so StZ online vom 23.5.) gab es auch nicht, sondern eine Rede und Statements ausgewählter BürgerInnen zu einzelnen Artikeln des Grundgesetzes. Letztere waren kunstvoll zweigeteilt: Zuerst einige von der Bühne, dann einige weitere mit Hilfe eines Mikrofons aus der Mitte der Anwesenden. Ich bin nicht sicher, ob dies als offenes Mikrofon angekündigt war, jedenfalls wurde dieser Eindruck erweckt. Als ich ein Kurzstatement anbot, wurde ich sehr kurz abgefertigt: das sei alles vorher abgesprochen, weiteres nicht möglich. Keines der Statements und kein Passus der Rede befasste sich mit den über 100 Veränderungen des Grundgesetzes im Laufe dieser 68 Jahre, mit der Kluft zwischen Verfassung und Verfassungsrealität, schon gar nicht mit aktuellen Plänen der Veränderung. Zu einer Verteilerin des Grundgesetzes sagte ich: „Danke, ich habe schon eines, und zwar ein besseres.“ Sie: „Warum besser?“ Ich wieder: „Weil die Verschlechterungen noch nicht alle drin sind.“ Und sie: „Welche denn?“ Ich: „Z. B. jetzt grade die mit der Privatisierung der Autobahn.“ Davon hatte sie noch nie gehört. Um nicht unfair zu sein: Bei einem weiteren Verteiler war das ein bisschen besser.

Es gab viele auf Karton vorgedruckte Schilder mit einigen Artikeln des Grundgesetzes drauf. Auf Aufforderung hielten viele Anwesende diese hoch – „das ist ein schönes, buntes Bild“ (oder so) wurden sie von der Bühne gelobt. Ich bin nicht in der DDR aufgewachsen; vielleicht wäre es mir dann vertrauter vorgekommen. Alles war sehr aufwändig gemacht; alle, die Grundgesetze verteilten, trugen Namensschildchen mit dem Logo der Veranstaltung. Hunderte von Exemplaren des Grundgesetzes wurden kostenlos verteilt (bezahlt von der Landeszentrale für politische Bildung?). Professionelle, z.T. staatliche Strukturen mit einem gewissen Etat standen offensichtlich hinter der Veranstaltung. Parteien blieben unsichtbar (wie auch bei „Pulse of Europe“). Diskussion, von der die StZ schrieb – eben die fehlte völlig. Offensichtlich war das so gewollt. Es könnte ja was aus dem Ruder laufen.

Auffällig finde ich:  In diesem Wahljahr gibt eine nicht mehr überschaubare Zahl von Initiativen, die aus der „Zivilgesellschaft“ heraus entstanden zu sein scheinen. Wie weit sie es wirklich sind und wo es eine Grenze gibt zwischen dem, was von „oben“ organisiert ist, und dem, was eine Bewegung von „unten“ ist, ist gar nicht so einfach zu sagen. Sicher machen viele Menschen aus sympathischen Motiven dabei mit. Doch mindestens die Kampagnen, die ich ein bisschen kennen gelernt habe, stacheln zu keiner Diskussion über Demokratie, Europa und die anderen hochgehaltenen Werte an, sondern wollen Menschen im Jubeln, im Akklamieren vereinen und mit einem guten Gefühl nach Hause entlassen. Die Werte, für die man sich versammelt und „engagiert“, bleiben undefiniert, allgemein, diffus. Schließt der Preis des Grundgesetzes die diversen Privatisierungsschübe, die Abgabe von Kompetenzen an mäßig demokratisch legitimierte Instanzen  (z.B. EU-Kommission) mit ein? Oder heißt es: Da steht so viel Wichtiges und Gutes drin – mach dir keinen Kopf um den Rest. Findet eine „Mobilmachung“ (vgl. meine Überschrift zu diesem Text) zur Rechtfertigung der herrschenden Zustände statt?

Klar ist für mich: Demokratie geht nur, wenn sich sehr viele über ziemlich vieles einen Kopf machen.

 

02.06.2017/Konrad